Performance / Happening
Im Rahmen vom Festival Perform Now!
Winterthur
1. Oktober 2011
Assistenz und Kamera:
René Hofstetter und Klara Windemann
Dem Alltäglichen eine Bühne geben und ein neues Universum schaffen
Erklimmt man das Dachgeschoss der City Halle im Winterthurer Sulzer-Areal nicht wie gewöhnlich durch den Haupteingang sondern über die an der Backsteinwand klebende Feuertreppe, schwer atmend, mit zitternden Knien, das wankende Gefühl in den Beinen, das Klirren des Eisengittergeräusches noch im Ohr, ist man erstmals froh, den sicheren Boden der ehemaligen Maschinenbaufabrik unter den Füssen zu wissen. Ein langer, heller, mit Deckenfenstern abgeschrägter schlauchartiger Raum eröffnet sich, die Herbstsonne scheint auf das Glasdach, die Luft riecht nach warmem Beton und Metall. Nebst einer Bar, ein paar leeren Stühlen und wenigen Festbänken, stehen Lichtstative und Mikrofone auf langbeinigen Ständern, filmbereite Kameras, Musikanlagen, Monitore und meterweise Kabel, lose und aufgerollt, aufgeklebt, arrangiert. Hier und dort versammeln sich kleine Menschengruppen, Eltern rennen ihren Kindern hinterher, man trifft sich, kennt sich, umarmt sich. Manche stehen alleine, die Arme verschränkt, das Kinn auf die Hand gestützt, an die Metallkonstruktion des Dachgeschosses lehnend. Einige wühlen in ihren Taschen, verstauen Dinge in Rucksäcken, tippen auf Mobiltelefone, blättern in Büchern. Andere warten, die Hände in den Hosentaschen.
Dass es schon begonnen hat, wird einem spätestens klar, als eine junge Frau neben einer Wasserpfütze im Raum zu tanzen beginnt, mit ihren nackten Füssen ins Wasser klatscht, diese über den Boden schleifen lässt, ihren Körper geschmeidig verrenkt, einen Rhythmus suchend. Ganz selbstverständlich wirken ihre komplizierten Bewegungen, sie hält inne, fast verlegen, nimmt die Bewegungen wieder auf, anmutig im Gegenlicht. Knallende Schritte aus der anderen Raumhälfte reissen einen aus dem Bann. Die Zuschauergruppe kommt in Bewegung und wendet sich der dünnen Frau auf sehr hohen Schuhen zu, die in hautengem Kostüm und einer Perücke aus pechschwarzen langen Fäden, mit erhobenem Kinn durch den Raum stöckelt und am Ende ihres imaginären Laufsteges kehrt. Während man über die Verbindung der anmutig tanzenden und der steif stöckelnden Frau nachdenkt, kommt Bewegung in die statische Ansammlung des Publikums. Eine auffällig gekleidete vermeintliche Zuschauerin, beginnt sich ruckartig zu bewegen, überspitzt, wankt, entwickelt und umkreist eine eigene, in sich geschlossene Geschichte und lockt damit die Zuschauer weiter in den Raum hinein. Von diesem Moment an kommt Dynamik in die Halle, alle gehen auf einmal einer konzentrierten Tätigkeit nach: eine Frau setzt sich auf einem leeren Stuhl und beginnt sich ohne Ende die Haare zu kämmen, eine weitere knickt beim Gehen ständig mit ihren hohen Schuhen ein, eine ältere Frau sitzt auf einer Bank und strickt, eine weitere löst Kreuzworträtsel. Aus einer Ecke klingen die sanften Klänge einer Mundharmonika, ein Mann, mit zerzaustem Bart, hockt ganz am Rande des Raumes und spielt eine Melodie, vor sich hat er einen Hut für Kleingeld gelegt. Das hohle Geräusch eines Pingpongballes auf dem Betonboden lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei Männer, die mitten in der Halle Pingpong spielen. Sie werden von drei jungen Leuten mit dunkeln Sonnenbrillen beobachtet. Eine weitere Zuschauerin steht stets auf einem Buch und beobachtet wie sich eine junge Frau windet und in und um die Metallverstrebungen krümmt, über die Musikboxen und hinter die Musikanlage kriecht, als suche sie den optimalen Ort, um sich in die Raumarchitektur und Infrastruktur zu fügen. Das bekannte Lied zum Geburtstag lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Szenerie in der Raummitte, wo überraschend ein Kindergeburtstag gefeiert und Schokoladenkuchen verteilt wird. Spätestens wenn man von einem Fotografen, der penetrant alle und alles aus unmöglichsten Winkeln fotografiert in den Fokus genommen wird, stellt man fest, dass sich die Grenzen verwischt haben, dass man nicht mehr nur konzentrierter Zuschauer ist, sondern ebenfalls ein Teil der ganzen Inszenierung. Im Gegensatz zur allgemeingültigen Realität, hat sich hier die Erwartung der Menschen verändert. Ausschnitte aus der Wirklichkeit werden in dieser Halle beleuchtet und erhalten durch die ständige Wiederholung oder durch die Loslösung ihres Kontextes eine besondere Aufmerksamkeit und neue Bedeutung. Die kultur- und zeitabhängigen Normen werden über Bord geworfen, was bleibt ist die Faszination für das Abweichende. Aus Fragmenten der Realität wird eine bunte, neue, in sich geschlossene Welt zusammengebaut. Und es soll nicht darum gehen, das immer schon Bekannte, als das Neue aufzuweisen, nicht etwas anderes in dieser Welt zu zeigen, oder eine andere Welt, nur diese Welt als andere. Keine neue Welt, sondern die Welt von neuem.
Die Zuschauer bewegen sich durch den Raum, manche gehen hinter einander, andere einander entgegen, verharren für kurze Zeit zusammen, beobachten sich gegenseitig, nach ungewohnt auffälligem Verhalten, nach Inszenierung. Die Grenzen vom Auffälligen zum Inszenierten verlaufen subtil, alle im Raum sind zu Akteuren geworden. Es entstehen haufenweise parallele Geschichten, alle sind beteiligt, alle erfolgen zeitgleich. Auf der Suche nach neuen Bildern und Szenerien hat man stets die Gewissheit, dass im jeweiligen Sichtfeld Geheimnisse bleiben, dass man immer nur die Hälfte sieht und so versucht man, sich, durch Standort- und Perspektivenwechsel einen Überblick zu verschaffen, im Wissen, dass jedes neue Sichtfeld Blinde Flecken aufweisen wird. Man sucht nach den Verbindungen, Zusammenhängen, macht Umwege und Richtungswechsel, widmet sich dem Einen, verpasst das Andere. Handlungen, die man aus den Augen verliert, findet man zu einem späteren Zeitpunkt wieder, sieht das Gleiche in neuem Zusammenhang, entdeckt neuen Sinn oder Unsinn.
Die Halle ist nun gefüllt mit Tun und Ton, es herrscht emsige Geschäftigkeit, präsentiert auf einer Bühne. Die Zeit vergeht und die unzähligen Aktionen laufen sich langsam aus, es wird stiller, ruhiger, leise singt die auffällig gekleidete Frau, die sich zu Beginn noch kunstvoll verrenkt hat, vor sich hin, melodische Worte murmelnd. Die Zuschauer haben sich um sie geschart, es wird stiller im Raum, ein paar Kinder sprechen noch laut, bis auch sie verstummen. Die Frau singt nun nicht mehr, die letzten Huster verhallen, man steht, bewegungslos, wo nichts mehr passiert und alle wissen, es ist etwas zu Ende gegangen. Und auf sicherem Weg, diesmal durch den Haupteingang, wird man in die gewohnte Realität zurück befördert und man fragt sich, wie alles angefangen hat und wo das enden wird. Oder ob sich auch hier die Grenzen verwischen.
Sara Lüscher